Ursprünge der Asymmetrie in der Antike. Archimedes als paradigmatisches Beispiel

Beitrag in: Asymmetrische Kriegsführung: Ein neues Phänomen der Internationalen Politik?

Josef SCHRÖFL / Thomas PANKRATZ (Hrsg.), NOMOS – Verlag ( Ende 2003)

„Asymmetrie macht das Phänomen“ Pierre Curie


Der Ursprung des Wortes Asymmetrie - das altgriechische - , bedeutet zuerstmaldas Fehlen einer gemäßen Proportion, eines Verhältnisses. Der zweite Sinn ist dann abgeleitet vom ersten: der Mangel eines gemeinsamen Maßes.

Die Griechen verstanden damit die Abweseinheit gemäßer Proportionsverhältnisse zwischen den verschiedenen Teile eines Objektes, wodurch auch die Harmonie, Fundament des Wahren, Schönen und Guten nicht mehr präsent sein kann. (Darvas 2000, 136). Daraus ergibt sich, dass die Unregelmäßigkeit, die einer asymmetrischen Form zu Grunde liegt, in sich die Unmöglichkeit eines Prototypen birgt, aus dem sich, in Form von Kopie eine Anzahl an verschiedenen Elementen ableiten lassen würde, .

Unter Betrachtung geometrischer Verhältnisse impliziert das griechische Wort den Mangel eines absoluten und homogenen Raumes, eines Raumes der, wenn er einer Transformation unterliegt (z.b. der Fall einer Drehung oder Teilung, Reduktion von drei zu zwei Dimensionen, etc.) immer noch bestimmte Eigenschaften beibehält. (Ein Beispiel ist die Drehung eines Zylinders entlang einer Geraden, die durch den Mittelpunkt schreitet; die frontale Betrachtung zeigt das Objekt immer in gleicher Weise. Wenn der Zylinder normal zur Achse geschichtet wird, ergibt sich der gleiche Kreis, der die Basis der dreidimensionalen Figur ausmachte.) Es handelt sich letztendlich um einen Raum, der als Referenz dient und leicht kontrollierbar ist.

Eine Asymmetrie kann entstehen durch ein Element, das verzögert wird, jedoch auch durch den Einsatz eines Zufallselementes, einen minimalen Störungsfaktor, der sich in die kristalline Ordnung einfügt, und dessen Hömogenität und Abbildbarkeit bricht. Es wird aus einer absoluten und immergleichen Struktur eine irreversible erzeugt, die nicht reproduzierbar ist, (die Störung würde schwer ein zweites Mal auf die selbe Art mit dem Objekt interagieren), und die einer zeitlichen Dynamik der Evolution, des Wandels, und der Vergänglichkeit unterliegt (die Störung kann sich innerhalb der Zeit ändern). Die Abweichung aus der regelmäßigen voraussehbaren Form produziert einen Raum, der nicht bereits immer „da“ war und ist, sondern durch einen Prozess fortlaufend erstellt wird.

In der politisch bewegten Zeit der Punischen Kriege zwischen Rom und Karthago gründet Archimedes (287?- 212 v. Chr..), eine Wissenschaft, die die Ideale der symmetrischen Perfektion anprangert: In den Worten des französischen Wissenschaftstheoretikers Michel Serres bildet das Werk des Syrakusanischen Wissenschaftlers eine allgemeine "Beschreibung der Ungleichheit" (Serres 2000, 21): zentrale Aspekte der Arbeit sind die Abweichung aus dem statischen Nullpunkt und die Abschweifung aus der Unbeweglichkeit und Passivität.

Die Theorie entfaltet sich in einem allgemeinen Wissensraum: sein Werk ist keine Abhandlung über Resultate und Methoden; eher handelt es sich um ein enzyklopädisches abstraktes System, in dem vielfältige Zusammenhänge zwischen theoretischen Wissenschaften, angewandten Wissenschaften und Technologie gestiftet sind.

Zwei Hauptrichtungen kennzeichnen Archimedes’ Werk1:

- Die Erstellung wichtiger Gesetze der Elementargeometrie, über Winkel, Kreis, Parabel, Kugel, Zylinder und Spiralen, die aus der geometrischen Analyse der Abweichungen einer Kurve von einer Gerade abgeleitet wurden. 2 Zu seinen bekanntesten Arbeiten zählt die Bemessung des Kreises, wo der Gelehrte das Intervall zwischen 3 10/71und 3 1/7 für eine Bemessung von bestimmte.

- Dissertationen über Kosmologie, wie in den „Sand-Reckoner“: Das Werk befasst sich mit der Bemessung der Anzahl der Sandkörner, im Falle dass das ganze Weltall aus Sandkörnern bestünde. Es wird hier ein Verhältnis zwischen makroskopischen und mikroskopischen Ordnungsgrößen vorgelegt, die eine Geometrie des Infinitesimalen einleitet3 und erste Gedanken über Atomtheorie in sich birgt: Archimedes ist einerseits Erbe der demokritischen Lehre und öffnet andererseits den Weg, der zu den Entwicklungen von Lukrez4 und Leibniz führt.5

Diese parallel fortlaufenden Studien führen Archimedes - wie M. Authier zeigt (Authier 1988) - zu der Überbrückung der in der griechischen Naturwissenschaft strikt getrennt gehaltenen Bereiche des Atomismus und der Elementarlehre. Grundlage der verschiedenen Studien des syrakusanischen Wissenschaftlers ist die Entwicklung einer allgemeinen Kinematik, ob es sich nun um den vertikalen Fluss der Atome oder die Bewegung schwerer Körper handelt.

Geometrisch betrachtet handelt sich Archimedes’ Werk um die Erfindung einer schiefen Ebene, einer Neigung - die später Lukrez „Clinamen“ nennen wird - die Gleiten und Sinken verursacht. Archimedes widmet dem Problem des Inklinationswinkels einen Text, „On plane Equilibrium“. Die Anfangsposition ist immer die des Gleichgewichts; jedoch im Verlauf der Auseinandersetzung kommt dieser Zustand zum Kippen. Die Gesetze der Statik werden hier als Beschreibung der Effekte der Abweichung eingesetzt; Beispiele sind seine geometrischen Studien über die analytischen Beschreibungen gekrümmter Linien, die später vom Gelehrten als Bewegungsbahnen schwerer Körper oder Trajektorien der Atome gedacht werden. Es geht also nicht um die Beschreibung des perfekten immerruhenden Körpers: die Statik birgt eher schon in sich die Möglichkeit einer Dynamik.

Ein eigenartiges „Weltbild“ ist hier geschildert. Die Natur läuft einem Gleichgewicht entgegen. Jedoch entstehen, durch Zufälle, kontinuierliche Abweichungen, kleine Neigungswinkel, die geformt und wieder zerstört werden. Es handelt sich also um eine Mathematik „of weight, of fall, of drives.“(Serres 2000, 15), eine Wissenschaft von Flüßen und Bewegungen, die sich in alle Richtungen erstrecken, ohne einen bevorzugten Kurs zu privilegieren.

Unordnung und Ordnung, Symmetrie und Asymmetrie sind in kontinuierlicher wechselseitiger Interaktion. Es wird so der Verfall und der Tod bewirkt, doch auch die Geburt und das Wachstum ermöglicht. Die Einzigartigkeit eines Prozesses, also seine Nicht-Reversibilität ist dadurch gegeben. Es entwickelt sich ein Szenario lokaler Ereignisse, „Wolken, Regen, Wasserhosen oder Regengüsse, die Richtung oder Kraft des Windes“ (Serres 2000, 67): also die Instanz, der Einzelfall, die Situation. Es entsteht Sinn für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, was eine Dynamik, letztendlich eine Existenz hervorbringt. 6

Dieser Weg steht gegenüber dem platonischen Ideal der Abbildbarkeit, die einen direkten symmetrischen Bezug zwischen der theoretischen, bestimmenden Welt und ihrer Umsetzung in die Praxis festlegt. Bei Archimedes dagegen ist der kosmische Verlauf als ein einzigartiger Prozess verstanden, dem kein Spiegelbild zu Grunde liegt.

Durch Archimedes’ Werk blühte die Geometrie als "freie kreative Forschung" auf (Virilio 1993, 118), die mit seinem Tod einen langen Stillstand zu erleiden begann. Als die römische Macht sich etablierte, dem Kommentar Virilios folgend, kehrte die freie Geometrie zu einem geometrischen Imperialismus zurück, der zur bloßen Organisation der "Morphologie des Staates" diente. Nicht mehr die Erforschung des Neuen war das Ziel, sondern die "Beibehaltung einer mythischen Tradition, eines allgemeines Verhaltens, welches einer absoluten Ortododoxie zu Grunde liegt." (Virilio 1993, 121 eigene Übersetzung) Archimedes’ Zugang dagegen erzeugte "Gedankengänge, die heftig in ihren Handlungen, diskontinuierlich in ihren Erscheinungen, und mobil in ihrem geschichtlichen Dasein" waren. (Deleuze, Guattari, 1992, 518). Seine Kreativität entfaltete sich im "Denken des Außen"(diese Behauptung ist durchaus wörtlich zu verstehen wie die vielfältigen wissenschaftlichen Beziehungen mit Gelehrten aus dem ganzen Mittelmeerraum zeigen, die er durch Schiffskorrespondenz aufrecht erhielt (vgl. Authier 2000),): Seine Intuition und sein Gespür für Variation erzeugten eine Mannigfaltigkeit neuer Querverbindungen zwischen nahen wie auch entfernten wissenschaftlichen Fragestellungen. Durch seinen kontinuierlichen Drang nach Neuem entstand eine Wissensproduktion, die sich nicht in einen definierten homogenen Bereich einschließen ließ, sondern sich in einen offenen, freien Raum entfaltete, und letztendlich in der Produktion einer Kriegsmachine mündete.

213 v. Chr.befindet sich Rom inmitten des Zweiten Punischen Krieges gegen Karthago. Nach dem Tod des syrakusanischen Königs Hiero, der ein gutes Verhältnis mit Rom pflegte und der Ermordung des 15-jähigen Hieronymos, Hieros Enkel und Nachfolger, gelang die Stadt unter Kontrolle von Hippokrates und Epykydes, zwei Brüdern karthagisch-syrakusischer Herkunft, die pro-Hannibal waren, der vor noch nicht so langer Zeit die Alpen überquert ( 218 v. Chr.) und die Römer in Cannae besiegt hatte (216 a.c.) - zeigten. Die Römer griffen Syrakus von zwei Seiten an: Marcellus kam von der Meerseite, zielte gegen den Quartier Arkradina mit ca.70 Kampfschiffen, die mit speziellen Leitern ausgestattet waren, die es den Soldaten ermöglichten, bereits am Schiff auf dieselbe Höhe der Stadttürme zu klettern, um den Zugang zur Stadt zu erleichtern.7 Appius Claudius Pulcher leitete die Bodentruppen, die die Stadt vom Landesinnerenerobern sollten.

Sowohl Polibius als auch Plutarch zeugen von der Überlegenheit der römischen Truppen in Zahl wie in Kraft. Doch die Erwartungen der meisten Leute, die sich eine leichte Eroberung vorgestellt hatten, wurden nicht erfüllt. Archimedes verstand es, seine theoretischen Überlegungen über Abweichung in die Praxis umzusetzen. Es wurden Maschinen erzeugt, die tonnenschwere Steine gezielt sowohl gegen die ankommenden Schiffe als auch gegen die sich nähernden Bodentruppen richten konnten. Wiedere andere hoben die Büge ankommender Schiffe plötzlich hoch und warfen diese um. Gegen die Soldaten, die sich bis an die Mauern herankamen, wurden „Skorpione“ gebaut: kleine Schleudern, die eiserne Wurfpfeile entluden und die Römer definitiv außer Gefecht setzten.89

Doch ein halbes Jahr später sollte die Stadt wiederhergestellt werden. Die Stadt wurde von Marcellus während der Feier der Göttin Artemis erobert, wobei ein Soldat Archimedes tötete.

Die Abweichungen, die der Gelehrte theoretisch studierte, bestimmten letztendlich den Verlauf eines asymmetrischen Krieges – den des „großen“ Roms gegen das „kleine“ Syrakus.. Durch Archimedes’ wissenschaftliche und technologische Erfindungen entstand eine Kriegsmaschine,10 die sowohl den Destruktionspol, der den Krieg zum Ziel macht, als auch den Pol der schöpferischen Erfindung, aufwies:eine ungeplante "Exteriorität" gegenüber der selbstreproduzierenden Interiorität der Staatsmachine. Ein temporäres Hindernis was letztendlich durch die Macht des Staates vereinnahmt worden.11

Bibliographie:

(Allen 2000) Allen Donald G., Archimedes of Syracuse, www.math.tamu.edu/~dallen/masters/Greek/archimed.pdf <http://www.math.tamu.edu/~dallen/masters/Greek/archimed.pdf>

(Authier 1998) Authier Michel, Archimedes, das Idealbild des Gelehrten, in Serres Michel (hrsg.), Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt M., 1998

(Darwas 2001) Darvas György, Symmetry and Asymmetry in Our Surroundings. Aspects of Symmetry in the Phenomena of Nature, Physical Laws, and Human Perception. in Olafur Eliason, Surroundings, Surrounded, Essays on Space and Science, ed. by P. Weibel, Karlsruhe 2001


1Seit dem Mittelalter waren Archimedes’ Arbeiten bekannt durch die Übersetzungen aus dem Griechischen ins Lateinische von William von Moerbeke (1215-1286), der griechische Manuskripte benutzt hatte, die spätestens im 16. Jahrhundert verloren gingen. 1899 wurde ein Palimpsest des Archimedeischen Werkes in einer Bibliotek von Istanbul aufgefunden. 1906 begann Heiberg das Dokument zu studieren und fand darin ein Buch, von dem die Existenz bekannt war, es jedoch nie aufgefunden wurde. Heibergs Studien wurden publiziert und bildeten eine wichtige Grundlage der Archimedeischen Forschung im letzen Jahrhundert. 1922 verschwand das Palimpsest wieder, um 1998 bei einer Auktion in New York wieder aufzutauchen. (Allen 2000)



2Diesel Beschreibungeen entfalten sich in mehreren Arbeiten: “On plane equilibria” Vol I-II, “Quadrature of a Parabola”, “On the sphere and Cylinder”, “On spirals”, “On Conoids and Spheroids”, “On the Measurement of the circle”. ( Heath 1953, Dijksterhus 1956)



3Archimedes arbeitet noch mit einer Geometrie der Endlichkeit (seine Größen, haben endlich Masse) Er setzt jedoch wie z.B. im Falle der Sandkörner, eine grundlegende Einheit. Dieser Gedanke ist grundlegend für die Theorie der Ableitungen, die auf eine grundlegende Einheit dx aufgebaut wird. Seine Methode der Bestimmung von Volumina durch die Rotation von Kegeln, entwickelt in dem Buch “on Conoids and Spheroids” ist ein grundlegender Gedanke moderner Integrationsmethoden.



4M. Serres zeigt, dass die Atomtheorie von Lukrez direkten Bezug auf den Korpus des syrakusischen Wissenschaftlers nimmt. (Serres 2000)



5Es befindet sich hier auch, wie (Dijksterius 1956, 361) bemerkt, eine Lösung über ein Problem fundamentaler Wichtigkeit in griechischer Mathematik und zwar das des Lesens und Schreibens großer Zahlen, da im numerischen System nur die Namen für die Zahlen Hundert (ekaton), Tausend (xilioi) und Zehntausend (murioi) existierten.



6Diese Idee wird im letzten Jahrhundert zur Grundlage Prigogines Theorie der dissipativen Systeme (Prigogine 1997)



7Diese Technik hieß Sambuca, da die Form, die durch die Kombination des Schiffes mit der Leiter entstand, dem Musikinstrument ähnelte.



8Michel Authier kommentiert, dass Archimedes nicht der erste theoretische Wissenschaftler sei, der sich mit der Lösung technischer Probleme befasste. Archytas war im vierten Jahrhundert vor Christus zehn Jahre lang Stratege von Tarent, sein Schüler Eudoxos, Mathematiker und Astronom, entwarf einige Methoden, die Archimedes dann in die Praxis umsetzte. (vgl. Authier 1998, 189)



9Die berühmten Spiegel, mit denen die römischen Schiffe verbrannt werden sollten, scheinen weder Archimedes’ Erfindung zu sein und wurden auch nicht von ihm eingesetzt. (Heath 1953, xxi)



10Nach Deleuze und Guattari erlangt die Kriegsmachine nur eine Existenz, durch Metamorphosen: "sie existiert in einer industriellen Erneuerung in einer technologischen Erfindung, in einem Handelskreislauf, in einer Religiösen Schöpfung, in all diesen Strömen die sich nur sekundär vom Staat aneignen lassen. (Deleuze Guattari 1992, 494)



11Die Vereinnahmung ist exemplifiziert durch Marcellus’ Verhalten gegenüber dem getöteten Archimedes: Der Staatsmann trauerte dem Wissenschaftler nach, der sein Genie gegen ihn gerichtet hatte, und ließ ihm ein Grab errichten, das seiner Statur entsprach.