Gedanken zu Raum und Schrift

 

 

Der Auftritt und die fortlaufende Entwicklung elektronischer Dispositive lässt das menschliche Wahrnehmungssystem nicht unberührt. Der Computer ist, wie De Kerckhove bemerkt, eine „Psychotechnologie“: Softwareprogramme funktionieren nicht nur als Produzenten von Daten verschiedenster Art, sondern affizieren unmittelbar die sinnlichen und kognitiven Entwicklungen unserer selbst. Wesendliche humane Medien, wie die sprachliche und Raum-Zeitliche Auffassung, erleben einen grundlegenden Wechsel.  Dieser Wechsel ist von zwei paradigmatischen Positionen welche einen entscheidenden Beitrag  für die Analyse von Fundamenten und Perspektiven der Kommunikationsrevolution lieferten, in diametral unterschiedlicher Art aufgefasst worden.

 

Vilém Flusser (vgl. Flusser 1992, 1995) erblickte im Aufkommen des Digitalen Codes die Krise des historischen - und infolgedessen auch Politischen - Bewusstseins.  Der dynamische Prozess der Geschichte ist nach Flusser unmittelbar mit der Geste des Schreibens verbunden, welche Eindrücke und Bilder, also Elemente welche strukturell aus relationalen Zusammenhängen von Informationseinheiten bestehen,  in eine lineare Folge von Informationen aufteilt und dekodiert: Schrift wandelt eine zweidimensionale Flächenstruktur in eine eindimensionale Zeilenanordnung um. Dadurch wird der Ausgang von den, den Mythos eigenen,  „Kreisen der Gedanken“ markiert. Und das lineare „logische“ Denken, welches dem Bewusstsein die lineare Entwicklung der Vergangenheit in die Zukunft aufzufassen ermöglicht, ist geboren. Mittels der Schrift können Geschehnisse festgehalten werden, während vorher nur singuläre Ereignisse denkbar waren.

Der Computer ersetzt den alphabetischen Code durch einen numerischen. Das lineare denken ist zugunsten eines neuen Ikonoklastischen aufgehoben; Zahlen, Formen Farben und Töne übernehmen die Funktion die früher den Wörtern eigen war. Das  historische, logische und kausale Denken permutiert in ein kalkulatorisches, statistisches und strukturelles. Die Welt wird nicht mehr als Verlauf von Prozessen wahrgenommen, sondern als Relationaler Zusammenhang von Feldern. Die Gesellschaft wird von undurchsichtigen black boxes gesteuert,  „unlesbare“ aber sehr wohl  „befolgbare“  Modelle, welche nur eine Elite erstellen und entziffern kann. Dieser Wandel erfordere eine Umstellung sowohl auf existenzieller als auch auf kultureller Ebene, welche eine neue intersubjektive Beziehung, wie auch eine neue Gestaltung Geographischer Dimensionen erfordere.

 

 McLuhan (Mc Luhan 1989), und später De Kerckhove (De Kerckhove 1990) analysieren diese Problematik unter einen anderen Gesichtspunkt. Der lineare Code welcher unserer Sprache und Schrift unterliegt, sei Resultat der  Überbedeutung welche die Abendländische Kultur dem diakronischen Zeitverständnis - also der  sequenziell aufgefassten Zeit -  zu ungunsten des synchronischen - Auffassung  welche den Sinn für  Gleichzeitigkeit  von Geschehnissen oder Prozessen ermöglicht - zugewiesen hätte. Zusätzlich bemerkt de Kerckhove dass die technologische Verfasstheit des Alphabets, welche bereits bei den Antiken Griechen begann, die Funktion der Sprache als korrekter Ausdruck von Aussagen  bestimmte, und somit einen spielerischen Umgang mit Bedeutungen untersagte. Durch die vorstrukturierten Raster der Schrift werden Informationen und Erfahrungen durchgesiebt, und in geordnete Sequenzen neu verteilt. Es entsteht jener Raum der Lefebvre als „abstrakt“ bezeichnet: die „Wirklichkeit“  wird auf eine „Ebene“ reduziert, welche den Anschein erweckt die Gesamtheit der Informationen zu enthalten, und der Erfahrung so einen objektiven Status zu verleihen vermag. Das Gesehene bildet nunmehr nicht einen bestimmten Aspekt der Wahrnehmung, sondern ist  die gesamte Wahrnehmung. Aussagen werden vom Subjekt abgelöst, und in einen passiven Zustand verlegt. Da der Text die Grenzen der intellektuellen Fähigkeiten einer Kultur bildet, also das was durch Lektüre überhaupt aufgenommen werden kann, hat jene durch die Schrift hervorgebrachte Entsinnlichung unmittelbare Auswirkungen auf die Sprache selbst.

Durch den Auftritt elektronischer Medien wird jenes Kräftegleichgewicht das den Primat des Visuellen darstellt, verschoben; Information wird als Folge, nicht mehr ausschließlich durch eine Lese-Schreibe Prozedur verarbeitet. Durch Radio Telephon und Fernsehen erlangen einerseits, auditive Fähigkeiten einen neue Bedeutung, andererseits werden  durch den Computer analytische und klassifikatorische Operationen übernommen die vorher dem bewussten menschlichen Aufgabenbereich zugehörig waren. Diese Entlastungen  für die Sprache von anderer Formen der Äußerung welche eine neue Beziehung zwischen Subjekt und Aussagen stiften.

 

Es entsteht solcherart ein Raum, der der Gesetze der euklidischen Geometrie zuwiederläuft.

Kein geschlossener, statischer, unendlich teilbarer, unendlich expandierbarer Raum, sondern ein neuartiger Raum, dessen Topologie als ein komplexes Netz von Teilungen Bifurkationen, Knoten und Zusammenhänge beschreibbar ist. Lokale Interaktionen entstehen, zerlegen sich, und formen sich subsequent um,   innerhalb eines globalen Zirkulationsnetzes. Molekulare Aggregate interagieren mit globalen Strukturen in einem ständigen Undulieren von Unordnung und Ordnung.  Die zugrundeligende Dynamik ist nicht eine der  Wiederholung sonder eine der kontinuierlichen  Evolution und Produktion des neuen mittels Stratifizierungs- und Destratifizierungsprozesse. Ein Raum in dem kontinuerlich Interaktionen von molekularen Aggregaten ein Austauschs und Zirkulationsnetz im Gang setzten. Ein Raum der sich nicht als unabhängig von der Zeit stellt. Welche wiederum nicht als eine linear aufgefasste Sequenz von atomaren Microeinheiten definiet ist, sondern als eine Vielfalt von heterogener und qualitativ unterschiedlichen Elementen (vgl. Grotz 2001).

Diese Wechselwirkung mir einer inhomogenen Zeit bewirkt dass der Raum nicht mehr ein globaler Container ist, sondern  dass dieser als lokal und regional wahrgenommen werden kann: er erlangt Intensitätsknoten die ihm eine eigene Materialität verleihen.  Relationen zwischen Elementen spielen eine wichtigere Rolle als geometrische Eigenschaften; es sind wandelnde „machinelle Vielfältigkeiten“ und nicht fixe geometrische Strukturen die, die den Raum produzieren und zugleich konstituieren. Das Gesetz der Repräsentation, welches die immergleiche Abbildung eines Raumes durch einen anderen ermöglicht,  ist hier  dementsprechend ungültig.  Es stellt sich die Frage ob damit nicht auch die Schrift, die wie oben bemerkt eng mit der Auffassung des Raumes verbunden ist, einen ähnlichen Umformungsprozess durchläufen würde: also ob damit nicht die Objektivität und Allgemeingültigkeit der Schriftzeichen - die innerhalb einer kulturellen Dimension als angenommen gelten - sowie deren Repräsentationscharakter ins Wanken gebracht wird. 

 

 

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          (Flusser 1992) Flusser Vilém, Die Schrift, Hat Schreiben Zukunft? Göttingen.

(Flusser 1995) Flusser Vilém, Der Flusser Reader, Mannheim.

(Grosz 2001) Grosz Elisabeth, The future of Space: Toward an Architecture of Invention, in Olafur Eliasson, Surroundings, Surrounded, Essays on Space and Science, ed. by P. Weibel, Karlsruhe.

(Mc Luhan 1989) Mc Luhan Marshall, The Global Village, in Medien Verstehen, der McLuhan Reader, Hg. von Martin Baltes, Fritz Böhler, Rainer Höltschl, Jürgen Reuß, Mannheim 1997.

(De Kerckhove 1995) De Kerckhove Derrick, Schriftgeburten, aus dem Franz. von Martina Leeker, München.